Big Data
Der Deutsche Bundestag hat 2010 bei der Einsetzung der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ das Internet als das „freiheitlichste und effizienteste Informations- und Kommunikationsforum der Welt“ bezeichnet. Diese Feststellung ist durch die Snowden-Enthüllungen widerlegt worden. Sie war zu keiner Zeit richtig.
Zwar wurde und wird es immer noch als Ausdruck von Freiheit im Netz verstanden, dass es auf nationaler und erst recht auf europäischer und internationaler Ebene nur einen sehr rudimentären Rechtsrahmen für netzbasierte Kommunikation gibt, so dass Internetnutzerinnen und -nutzer jedenfalls nicht durch Gesetze daran gehindert werden, im Netz hierhin oder dorthin zu gehen, dies oder jenes zu sagen, mit der einen oder mit dem anderen Kontakt aufzunehmen.
Dieser Form von Freiheit stehen aber massive Freiheitsbeschränkungen gegenüber. Sie ergeben sich bereits aus der monopolartigen und netzbeherrschenden Stellung von Google, Facebook und Co., die den Nutzerinnen und Nutzern kaum noch eine wirkliche Alternative zu diesem sozialen Netzwerk oder zu jener Suchmaschine offen lassen. Freiheitsbegrenzend wirkt es sich auch aus, dass jeder Vorgang im Netz, insbesondere jeder Kommunikationsvorgang, digitale Spuren hinterlässt, Inhalts- und Metadaten, die nicht nur erfasst, gespeichert und ausgewertet, sondern ihrerseits im Netz auch kopiert, weiterverarbeitet und neu zusammengeführt werden können, so dass ein riesiges Datenmeer entstanden ist, für das sich der Begriff „Big Data“ etabliert hat. „Big Data“ verliert niemanden aus dem Auge. Selbst im größten Datenmeer lassen sich jedermanns Daten in Sekundenschnelle aufspüren.
Mehr als jede andere Technologie trägt deshalb die digitale Technologie den Schlüssel zur Registrierung, Kontrolle und Überwachung der Menschen in sich. Das Internet und erst recht das im Entstehen begriffene „Internet der Dinge“ bringen deshalb nicht nur Vorteile und Annehmlichkeiten, Innovationen und Wirtschaftswachstum, Bildungschancen und neue Teilhabemöglichkeiten mit sich, sondern begründen auch die Gefahr der gläsernen Verbraucherinnen und Verbraucher und der gläsernen Bürgerinnen und Bürger und damit die Gefahr einer Überwachungsgesellschaft und eines Überwachungsstaats. Die digitale Freiheit könnte sich – wenn sie nicht effektiver als bisher geschützt wird – als Chimäre erweisen.
Dass diese Gefahr nicht nur theoretischer oder abstrakter Natur ist, sondern konkrete Bezugspunkte hat, und zwar auch in westlichen Demokratien, wissen wir seit den Enthüllungen Edward Snowdens, die im Juni 2013 mit der Veröffentlichung geheimer NSA-Dokumente im britischen „Guardian“ und in der US-amerikanischen „Washington Post“ begonnen haben und seither auch in anderen Medien wie dem „Spiegel“ fortgesetzt werden, wobei die Öffentlichkeit vor allem darüber unterrichtet wurde und wird, wer von den Ausspähaktionen der NSA und dem britischen GCHQ (Government Communications Headquarters) auf welche Weise, in welchem Umfange und mit wessen Hilfe betroffen ist. Durch diese Enthüllungen wurde bekannt, dass vor allem von der NSA Staatsoberhäupter und ranghohe Politikerinnen und Politiker überwacht werden, aber auch die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Europäische Rat sowie Wirtschaftsunternehmen und Bürgerinnen und Bürger in allen Teilen dieser Erde, wobei nicht nur, aber vor allem deren Internetkommunikation von den Ausspähaktionen erfasst werden.
Es geht um Verbindungsdaten von Telefongesprächen, von SMS, E-Mails und Chats, um Standortdaten von Mobiltelefonen und um vieles mehr. Dabei werden transatlantische Unterseekabel ebenso „angezapft“ wie die Datenspeicher von Google, Facebook und Co. und die Datenbestände von Telekommunikationsunternehmen wie der British Telecom und Vodafone oder des belgischen Providers Belgacom. Die entsprechenden Programme heißen u.a. PRISM, TEMPORA, DISHFIRE und XKeyscore, wobei offenbar auch Verschlüsselungstechniken keinen vollständigen Schutz garantieren. Computer und Smartphones werden mit Spionagesoftware infiltriert, wobei die NSA offenbar auch in der Lage ist, Google-Cookies für ihre Übergriffe zu nutzen.
Auch wenn davon auszugehen ist, dass bisher erst ein Teil der Snowden-Dokumente veröffentlicht wurde, rechtfertigen bereits die bekannt gewordenen Geheimdokumente die Feststellung, dass keine Kommunikationsform so weitgehend und zugleich so weltumspannend überwacht wird, wie die Internetkommunikation, was letztlich – wie gesagt – auch darauf zurückzuführen ist, dass die großen US-Internetfirmen und große Telekommunikationsunternehmen in die globalen Überwachungsaktivitäten der Geheimdienste eingebunden waren und offenbar immer noch eingebunden sind.
In Zeiten von Big Data stellen sich deshalb die NSA und der britische Geheimdienst sowie Google, Facebook und Co. als eine Art „Big Brother-Allianz“ des Internets dar.
Für die entsprechenden Überwachungsstrukturen sind vor allem zwei Umstände entscheidend. Sie betreffen die normativen Grundlagen und die technischen Kompetenzen. In den USA gelten andere rechtliche Rahmenbedingungen, insbesondere erheblich geringere Datenschutzstandards als in Europa, insbesondere in Deutschland. Hinzu kommt, dass die USA in der Lage sind, ihre defizitären Standards auch im Internet und im World Wide Web und damit auch gegenüber den deutschen Internetnutzerinnen und -nutzern durchzusetzen. Das eine – die normativen Inhalte – sind nicht nur, aber ganz wesentlich auf 9/11 zurückzuführen, das andere – die technologische Dominanz und digitale Überlegenheit – darauf, dass das Netz bereits US-amerikanische Wurzeln hat und dann in erster Linie auch im amerikanischen Silicon Valley weiterentwickelt worden ist. Ausdruck dieser US-amerikanischen Internetdominanz sind die das Internet beherrschenden Großunternehmen wie Google, Facebook, Amazon und Apple, die ihren Sitz in den Vereinigten Staaten haben. Gleiches gilt für die Hersteller technischer Netzwerkkomponenten. Selbst die zur Verwaltung des Internets eingerichtete Organisation ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) hat ihren Sitz in den USA; leitende Funktionen sind häufig mit US-amerikanischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besetzt. Das hat zur Folge, dass auf der einen Seite die USA die Regeln im Netz bestimmen und auf der anderen Seite der Rest der Welt sich – jedenfalls derzeit – kaum dagegen zur Wehr setzen kann, wobei sich nach dem Willen der USA daran auch in Zukunft nichts ändern soll. In seiner Rede zum NSA-Skandal bemerkte der amerikanische Präsident, dass er seine Behörden nicht dafür tadeln könne, wenn sie effektiver seien als die Behörden anderer Staaten. Darum geht es also: möglichst effektiv und lückenlos zu überwachen.
All das hat gravierende Konsequenzen für den Kreis der Überwachten. Zu diesen Konsequenzen zählt die Befürchtung vieler Internetprotagonisten, dass das Netz als Medium der Demokratie, der Freiheit und der Selbstbefreiung zerbrochen sei. Diese Befürchtung wird in dem Satz: „Das Internet ist kaputt“ (Sascha Lobo) und in der Feststellung zusammengefasst: Das freie Internet sei „eine fixe Idee“. Tatsächlich funktioniere es „als Überwachungsmaschine“ (Jacob Appelbaum).
Aber der von der NSA und ihren Helfern angerichtete Schaden betrifft nicht nur das Netz und seine verschiedenen Funktionen. Er betrifft vor allem die Internetnutzerinnen und -nutzer und deren vom Bundesverfassungsgericht begründeten und für das Internetzeitalter weiterentwickelten Datenschutzgrundrechte. Gemeint sind das eng mit der deutschen Geschichte verwobene Recht, grundsätzlich selbst über die Preisgabe der eigenen Daten zu entscheiden (informationelles Selbstbestimmungsrecht; vgl. BVerfGE 65, 1) und der „Anspruch auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ (sog. Internetgrundrecht; vgl. BVerfGE 120, 274). Beide Rechte werden mittlerweile bereits als „Ladenhüter“ bezeichnet. Jedenfalls sind derzeit keine Grundrechte so bedroht, wie diese beiden Rechte und das Fernmeldegeheimnis. Sie sind bedroht vor allem durch die NSA und den britischen Geheimdienst, aber auch durch die großen Internetfirmen, die privateste Informationen ins Netz saugen, auf diese Weise digitale Abbilder der Menschen erzeugen, um sie dann wirtschaftlich zu verwerten oder für staatliche Zwecke bereitzuhalten.
All dies hat mit „Freiheit im Netz“ nichts zu tun. Im Gegenteil: Es gefährdet unsere freiheitliche Ordnung insgesamt, wie Bundespräsident Joachim Gauck zu Beginn der Snowden-Enthüllungen zu Recht festgestellt hat. Man kann anmerken, dass Teil dieser freiheitlichen Ordnung auch unsere Wirtschaftsordnung ist, die ebenfalls beeinträchtigt wird, weil ein Teil der Spähaktionen vermutlich nichts anderes darstellt als Wirtschaftsspionage.
In den vergangenen Monaten haben sich viele staatliche Stellen und zivilgesellschaftliche Einrichtungen, aber auch viele besorgte Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, in anderen Staaten, nicht zuletzt in den USA, mit diesem Sachverhalt und den daraus erwachsenen Gefahren befasst und viele Vorschläge entwickelt, wie den Überwachungsexzessen im Internet begegnet werden könnte.
Die UN-Vollversammlung hat im Dezember 2013 eine unter Federführung Deutschlands und Brasiliens erarbeitete Resolution zum Schutz der Privatsphäre im digitalen Zeitalter – wenn auch auf Druck der USA in abgeschwächter Form – angenommen (Deutsch-brasilianische UNO-Resolution vom 18. Dezember 2013 „Das Recht auf Privatheit im digitalen Zeitalter“, www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/660690/publicationFile/186832/131127_Right2Privacy_DE.pdf )
Das Europäische Parlament hat seinen Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE-Ausschuss) mit der Aufklärung des NSA-Skandals und mit der Erarbeitung von Konsequenzen beauftragt. Sein Bericht liegt jetzt vor. Die Europäische Kommission hat versucht, die Beratungen des Entwurfs einer Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (vgl. Tz. I-3.2.2) im Lichte des NSA-Skandals neu zu strukturieren und zu forcieren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird sich aufgrund einer Beschwerde von Bürgerinnern und Bürgern aus verschiedenen europäischen Staaten ebenfalls mit den Überwachungsvorgängen befassen.
Der Deutsche Bundestag hat u.a. in einer Sondersitzung dieses Thema behandelt und jetzt einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss dazu eingesetzt. Die Bundesregierung hatte schon am 19. Juli 2013 ein Acht-Punkte-Programm für einen besseren Schutz der Privatsphäre verabschiedet und in einem Folgebericht am 18. August 2013 über erste Konsequenzen berichtet (Acht-Punkte-Programm der Bundesregierung zum besseren Schutz der Privatsphäre, www.bundesregierung.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Artikel/2013/07/2013-07-19-bkin-nsa-sommerpk.html ; Fortschrittsbericht des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie vom 14. August 2013 „Maßnahmen für einen besseren Schutz der Privatsphäre“, www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Nachrichten/Pressemitteilungen/2013/08/bericht.pdf ).
Nach der Bundestagswahl haben sich die neuen Koalitionspartner mit „Konsequenzen aus der NSA-Affäre“ befasst und verschiedene Maßnahmen angekündigt: neben einem Abkommen zum Schutz vor Spionage u.a. die Verpflichtung der europäischen Telekommunikationsanbieter, ihre Kommunikationsverbindungen mindestens innerhalb der EU zu verschlüsseln, und das an diese Provider gerichtete Verbot, ihre Daten anderen ausländischen Nachrichtendiensten zugänglich zu machen.
Verschiedene Landesparlamente und Landesregierungen haben das Thema aufgegriffen, nicht zuletzt in Rheinland-Pfalz, wo Ministerpräsidentin Malu Dreyer noch vor der Bundestagswahl einen Runden Tisch mit Vertretern des Bundes, der Länder und der Datenschutzbeauftragten angeregt hatte, die sich zuvor bereits in einer eigenen Entschließung auf ein Maßnahmepaket zur Eindämmung von Überwachungsexzessen verständigt hatten.
Viele Stellungnahmen, Appelle und offene Briefe aus der Gesellschaft kommen hinzu. 560 Schriftsteller aus aller Welt, darunter einige Literaturnobelpreisträger, haben in 32 Zeitungen den Aufruf zur Verteidigung der „Demokratie in der digitalen Welt“ veröffentlich. Mehr als 200 Wissenschaftler haben ebenfalls einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie die Nationalstaaten auffordern, die Macht der Geheimdienste zu begrenzen und sie besser zu kontrollieren. Bereits Ende Oktober 2013 hatte der BITKOM als Branchenverband der Internetwirtschaft ein Positionspapier für mehr Datenschutz und Datensicherheit vorgelegt (BITKOM-Positionspapier zu Abhörmaßnahmen der Geheimdienste und Sicherheitsbehörden, Datenschutz und Datensicherheit vom 31. Oktober 2013, www.bitkom.org/files/documents/BITKOM-Positionspapier_Abhoermassnahmen.pdf ). Zu erwähnen ist schließlich auch, dass es am 11. Februar 2014 einen weltweiten Aktionstag gegen die NSA-Überwachung gegeben hat. Unter dem Motto „Today we fight back“ wurden auf über 6.000 Webseiten Banner gegen die Massenüberwachung durch Geheimdienste gezeigt.
Immer wieder haben die Medien über die neusten Enthüllungen und über die Reaktionen aus Politik und Gesellschaft berichtet, auch über die Reaktionen aus den USA, wo sich zwar einerseits Kritik und Widerstand gegen die NSA-Bespitzelungen formiert, andererseits US-Präsident Barack Obama am 17. Februar 2014 angekündigt hat, keine grundsätzlichen Abstriche am Umfang der geheimdienstlichen Überwachungsaktionen machen zu wollen. Lediglich das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin soll künftig nicht mehr ausgespäht werden.
Es ist bemerkenswert, dass diese intensive öffentliche Debatte von der Bevölkerung eher mit Gleichmut und Achselzucken wahrgenommen wird. Den vorliegenden Umfragen zufolge werden die Geheimdienstaktionen zwar weder gutgeheißen noch akzeptiert, großer Unmut oder gar Empörung ist aber kaum festzustellen. Laut ZDF-Politbarometer vom Januar 2014 stehen Datenschutz und Datensammlung durch Geheimdienste sechs Monate nach Beginn der Snowden-Enthüllungen nur auf Platz 15 der wichtigsten Probleme in Deutschland. Nur drei Prozent der Befragten fühlen sich dadurch belastet. In der Bevölkerung hat sich eine „Das-war-doch-klar“-Haltung breitgemacht.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Während einerseits beinahe täglich neue Überwachungsaktivitäten der NSA und des britischen Geheimdienstes bekannt werden, scheinen fast alle Gegenmaßnahmen und Gegenvorschläge ins Leere zu gehen. Jedenfalls ist für die Bürgerinnen und Bürger nicht zu erkennen, dass ihr Staat in der Lage wäre, sie effektiv vor den digitalen Überwachungsmaßnahmen der Geheimdienste und der Beteiligung von Google, Facebook und Co. effektiv zu schützen.